Aktuelles zum Forschungsschwerpunkt Information Disorder
Die Vielzahl an Quellen im Internet und in den sozialen Netzwerken macht es für die Menschen zunehmend schwierig, die Qualität der Information einzuschätzen und harte Fakten von „Fake News“ unterscheiden zu können. Im so genannten postfaktischen Zeitalter werden seit einigen Jahren Tatsachen und Meinungen eingeebnet, Unwahrheit und Lüge sind unterdessen in allen politischen Systemen strukturell salonfähig gemacht worden. Im Zuge der gesellschaftlichen Verwerfungen, die aus dem qualitativen und quantitativen Anstieg der Desinformation resultieren, hat sich der Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft in der jüngeren Vergangenheit wissenschaftlich mit vielen Aspekten des Phänomens beschäftigt und vielfach öffentlich Stellung bezogen.
Studie zum Thema „Hass im Telegram-Stil“
Gemeinsam mit Studierenden des Masterstudiengangs „Medien und Kommunikation“ wurde jüngst die Kommunikation von Populistinnen und Populisten zur Corona-Pandemie auf Telegram und Facebook untersucht. Die Studie entstand im Rahmen des Hauptseminars „Populismus, Postfaktizität und Medienkommunikation“ und ist als Preprint über die Wissenschaftsplattform Researchgate abrufbar. Das Projekt fügt sich in die Forschung des Lehrstuhls zum Thema Fake News und Desinformation ein. Die Studie, die von Lehrstuhlinhaber Ralf Hohlfeld betreut wurde, wurde anschließend von zahlreichen Medien im Rahmen der Berichterstattung über Corona-Leugnerinnen und -Leugner aufgegriffen.
So ging etwa die Deutsche Welle vor dem Hintergrund der Radikalisierung dieser Personen auf die Forschungsergebnisse ein. Besonders relevant in diesem Zusammenhang: Der große Anteil an direkten Handlungsaufforderungen in den Telegram-Gruppen gegenüber etwa staatlichen Maßnahmen. Auch die Passauer Neue Presse (PNP) nahm Bezug auf das Projekt. Im Mittelpunkt steht der fehlende Diskurs in den Telegramgruppen, stattdessen bestätigen sich die Teilnehmenden ausnahmslos in ihrer Verachtung gesellschaftlicher Institutionen. Auch Verschwörungsmythen werden großflächig propagiert, etwa über die Wirksamkeit der Impfung, dazu recherchierte der Faktenfuchs von BR24. Von der Politik geplante Maßnahmen, um die Telegram-Gruppen zu regulieren, etwa eine Telegram Taskforce, sieht der Inhaber des Lehrstuhls jedoch kritisch. Gegenüber ntv betont er, dass die Personen hinter diesen antidemokratischen Gruppen selbst antidemokratisch eingestellt sind und gegebenenfalls auf andere Plattformen ausweichen, sollte Telegram stärker überwacht werden.
Impfverweigerung als Katalysator für Staatsverdrossenheit
Dabei sind die Chats durchaus beobachtungswürdig: Die Gruppen bergen ein Radikalisierungspotenzial, das die Demokratie unterminiere und eine Gefahr für die heutige, pluralistische Gesellschaft darstellen könne, so Hohlfeld gegenüber der PNP. Ein weiteres Ziel sei es, Menschen gegeneinander aufzuhetzen. Dabei geraten auch Medien in den Fokus: So berichtete der BR über zahlreiche gefälschte Stellengesuche angeblicher ungeimpfter Pflegekräfte auf der Suche nach einer neuen Beschäftigung, die über Telegram-Gruppen organisiert wurden. Die Gruppendynamik in den Chats ist dabei bemerkenswert: “Es gibt keine Gegenstimmen. Vielmehr bestärkt man sich in den Gruppen gegenseitig”, so der Wissenschaftler im Interview gegenüber der Mittelbayerischen Zeitung. Es erfolgen gemeinsam verbale Angriffe auf Institutionen durch Personen mit antidemokratischer sowie antisemitischer Grundhaltung. Durch die Gruppen profitieren schließlich die so genannten Verschwörungs-Influencer. Diese Personen verfolgen eigene ideologische Ziele und nutzen ihre Reichweite entsprechend, so der Passauer Kommunikationswissenschaftler im Gespräch mit der Stuttgarter Zeitung.
Demnach werden Impfungen als Katalysator genutzt, um andere Skeptikerinnen und Skeptiker davon zu überzeugen, dass die staatlichen Institutionen die Bürgerrechte einschränken will. Der harte Kern dieser Impfgegnerinnen und Impfgegner habe sogar die Schwächung oder Abschaffung der Demokratie und ihrer Institutionen zum Ziel, erklärt der Kommunikationsforscher im Interview mit der Onlineplattform Da Hog'n und in einem Essay für das Debattenmagazin Critizen argumentiert er, dass der harte Kern die „normalen“ Impfskeptiker mit in diesen Kulturkampf hineinzieht, indem er ihnen vorgaukelt, dass eine Impfdiktatur errichtet werde, ihnen sogar die „Ausrottung“ drohe.
In diesem Essay und in einem Gespräch mit RBB-Inforadio unterscheidet Hohlfeld insgesamt drei Gruppen von Impfgegnerinnen und Impfgegnern, die in der öffentlichen Kommunikation wahrnehmbar sind: die Ängstlichen, die Selbstbewussten und die Aggressiven. Während die erste Gruppe möglicherweise noch erreichbar und mit klaren Informationen zu überzeugen wäre, verhalte es sich bei den anderen beiden Gruppen anders; sie zu einem Sinneswandel zu bewegen, sei wenig aussichtsreich. Die Selbstbewussten stammen überwiegend aus den Milieus der Anthroposophie, der Esoterik und der Naturheilkunde, die davon überzeugt sind, das Coronavirus könne ihnen nichts anhaben. Die Gruppe der Aggressiven gehört zu den entschiedenen Gegnern der pluralistischen und offenen Gesellschaft und weise massive Demokratiedefizite auf, so Hohlfeld.
Laute Minderheit zweifelt an ausgewogener Berichterstattung
Insgesamt könne man aber nicht davon ausgehen, dass es sich bei den Befürwortenden und Ablehnenden der Corona-Schutzimpfung um zwei gleich große Gruppen mit gleicher Legitimität handelt. Obwohl die Impfunwilligen schon in der vierten Pandemiewelle im Herbst 2021 die wesentlich kleinere Gruppe darstellten, habe die ablehnende Meinung der Minderheit einen überproportional großen Raum in der Berichterstattung eingenommen, erklärt Hohlfeld im zweiten Teil des Interviews mit Da Hog’n. Dieses Phänomen nennt sich “false balance“ und beschreibt die Forderung einer ausbalancierten Gewichtung der Meinungen in der Berichterstattung, die aber weder der Meinungsverteilung in der Realität entspricht, noch den Bezugsrahmen der Gesellschaftsordnung und ihrer Werte berücksichtigt. In einer Sendung von SWR1-Leute weist Ralf Hohlfeld auch auf den sogenannten “hostile media effect” hin. Das heißt, Menschen neigen dazu, die Position, die sie selbst nicht vertreten, als in der eigentlich ausgewogenen Medienberichterstattung überstrapaziert wahrzunehmen. Sie glauben daher, die Medien wären weltanschaulich einseitig, woraus eine feindselige Einstellung zu den klassischen Nachrichtenmedien entsteht. Im Interview mit Da Hog'n unterstreicht der Wissenschaftler, dass Menschen allgemein nach Bestätigung der eigenen Haltung suchen und sogenannte dissonante Medieninhalte und Informationen meiden. Algorithmenbasierte Filterblasen und Echokammern der sozialen Medien verstärken schließlich die Tendenz, dass sich Menschen in kontroversen Debatten nicht mehr zuhören und es nur noch zu einem Austausch Gleichgesinnter kommt, erklärt Hohlfeld. Die Spaltung der Gesellschaft durch die Corona-Pandemie und deren Auswirkungen sei deshalb vor allem in sozialen Medien sichtbar. Dies sei auch der Ort, wo Verschwörungsmythen entstehen und wachsen, wie der Kommunikationswissenschaftler im Rahmen eines Vortrags in Neuburg an der Donau am Tag des Überfalls Russlands auf die Ukraine betont. Die Neuburger Rundschau zitiert ihn damit, dass soziale Medien alternative Informationsquellen geschaffen haben, die für die Entstehung von Verschwörungserzählungen – vor allem im Bereich der Querdenkerszene – entscheidend sind: Die Informationsflut kann nicht mehr angemessen bewältigt werden, Verschwörungsnarrative, die nicht auf Fakten, sondern Gefühlen, Befindlichkeiten und Wunschdenken basieren, geben den Anhängern das Gefühl, die Kontrolle zurückzugewinnen. Wahrheit und Wahrhaftigkeit spielen dabei keine Rolle.