Sterblichkeit und Erinnerung
Soziale Gedächtnisse am Lebensende
Universität Passau, 11./12. März 2021
Jahrestagung des Arbeitskreises »Gedächtnis – Erinnern – Vergessen« der DGS-Sektion »Wissenssoziologie«
Organisiert von Thorsten Benkel, Oliver Dimbath und Matthias Meitzler.
Programm
Donnerstag, 11. März 2021
Zur Eröffnung
10:30 – 10:45 Thematische Einführung der Veranstalter
10:45 – 11:15 Thorsten Benkel / Passau
Gedächtnispolitik. Institutionen und Rituale des (Nicht-)Erinnerns
PANEL: Abschließen als Vorbereitung des Sterbens
11:15 – 11:45 Sarah Peuten / Augsburg
Würdezentrierte Therapie. Über gelingendes Erinnern am Lebensende
11:45 – 12:15 Melanie Pierburg / Hildesheim
»Auch ihr erinnert euch.« Biografische Repräsentationen in der Hospizausbildung
MITTAGSPAUSE 12:15 – 13:30
PANEL: Bestattungs- und Sepulkralkultur
13:30 – 14:00 Matthias Meitzler / Passau
Postexistenzialität. Der Friedhof als Gedächtnisraum
14:00 – 14:30 Leonie Schmickler / Passau
Materielle (Un-)Vergänglichkeit. Die symbolische Umdeutung von Artefakten
im Trauerprozess – am Beispiel des Aschediamanten
PANEL: Formen des Gedenkens
14:30 – 15:00 Jan Ferdinand / Berlin
»Die Toten leben in uns, wir mit den Toten weiter.« Zum Übergang vom
›kommunikativen‹ ins ›kulturelle Gedächtnis‹ bei Jan Assmann
15:15 – 15:45 Nina Leonhard / Potsdam
Militärisches Totengedenken. Gedächtnissoziologische Überlegungen am
Beispiel der Bundeswehr
PAUSE 15:45 – 16:00
16:00 – 16:30 Ekkehard Coenen / Weimar
Infrastrukturen des Erinnerns und Mitsein mit den Getöteten. Wissens-
soziologische Beobachtungen am Beispiel der Gedenkstätte Buchenwald
16:30 – 17:00 Carsten Heinze / Koblenz
Das Spannungsverhältnis zwischen Orten des Todes und Überlebend(den) in
dokumentarischen Filmen. Bürgerkrieg und Genozide im 20. Jahrhundert
Freitag, 12. März 2021
PANEL: Anfang und kein Ende
10:00 – 10:30 Nico Wettmann / Gießen
Erinnerung, Phantasmen, Vergessen. Fehl- und Totgeburten aus
zeitsoziologischer Perspektive
10:30 – 11:00 Oliver Dimbath / Koblenz
Unsterblichkeit
PANEL: Auflösen als Bewältigung des Nachlasses
11:00 – 11:30 Gerd Sebald / Erlangen
Familiengedächtnis, Tod und Erbe
11:30 – 12:00 Christoph Nienhaus / Bonn
Erbschaft als Erinnerung. Rechtsnachfolge und Testierfreiheit im Spiegel
der soziologischen Theorie
Zum Abschluss
12:00 – 12:15 Abschließende Worte der Veranstalter
Call for Papers
Wer von Erinnerung spricht, darf vom Tod nicht schweigen. Das Bewahren von Wissen, von Ereignissen, aber auch von Empfindungen usw. gewinnt gerade durch die prinzipielle Vergänglichkeit des menschlichen Handelns und Erinnerns seine Relevanz. Festschreibungen etwa durch mediale Aufzeichnung oder mündliche Weitergabe verleihen folglich nicht nur dem sonst Vergessenen eine gegenwärtige Präsenz, sondern transzendieren zugleich das Problem des Sterbens von Erinnerungsträger*innen.
Der Tod – die »Grenzerfahrung par excellence« (Berger/Luckmann) – bedeutet in diesem Zusammenhang zunächst, dass Inhalte verloren gehen, die im subjektiven Gedächtnis gespeichert waren. Aufbewahrt bleibt das, was an materiellen ›Beweisstücken‹ (Hinterlassenschaften, Spuren, Erbe, aber auch die Leiche) über das Lebensende Einzelner hinaus vorhanden ist – und das, was von anderen erinnert wird. Da der ursprünglich relevante Sinnkontext ohne konkrete Erinnerung mitunter unzugänglich ist, fehlt den Überlebenden bzw. den Nachkommen beispielsweise im archäologischen Zusammenhang häufig die Kompetenz, verloren gegangenes Kontextwissen adäquat zu rekonstruieren. Vergangenheit wird, so scheint es, durch Erinnerungsverlust undurchsichtig.
Die Frage nach der Herkunft des Menschen (bzw. des Einzelnen) sowie nach dem Ursprung der Dinge (bzw. des einzelnen Gegenstands) leitet immer wieder zu dem Versuch, die Umstände der Produktionsweisen des vergangenen Sozialen anhand seiner Überreste zu ergründen. Antworten, die von hiermit beauftragten Instanzen – in der modernen Welt: den Wissenschaften – gegeben werden, dienen der Orientierung in der jeweiligen Gegenwart und sind damit: Wissen.
Der Zusammenhang von Sterben und Gedenken, von Tod und Gedächtnis, von Wissen und Spuren macht die Relevanz des sozialen Erinnerns deutlich: Persönliche Rekonstruktionen fallen zusammen mit sozial vermittelten Bezugnahmen auf die Vergangenheit, aus denen sich die Strukturierung des individuellen Gedächtnisses erst ergibt. Folglich ist nicht jedes Gedächtnis ein unabhängiger ›Vergangenheitsspeicher‹; vielmehr ist individuelles Erinnern vom sozialen Gedächtnis geprägt. Die Erinnerung an die Lebenswelt Verstorbener ist deshalb keine authentische Dokumentation, sondern durch gesellschaftlich tradierte Konzepte des Erinnerns (oder auch Nicht-Erinnerns) vorgeprägt.
In der Erinnerung von significant others sind die Toten auch dann noch präsent, wenn sie ihre gesellschaftlichen Rollen schon lange nicht mehr ausüben. Diese Form der parasozialen ›Fortexistenz‹, die unter wissenssoziologischen Gesichtspunkten schon bei Max Scheler auftaucht, wird bei prominenten Verstorbenen konterkariert, an die man sich auch dann erinnern kann, wenn man ihnen niemals begegnet ist. In beiden Fällen ändert der Statusübergang vom Leben in die Sphäre des Nichtlebens den Modus der künftigen Bezugnahme, der überdies von sozialen, religiösen oder ideologischen Faktoren abhängt.
In der Kulturgeschichte stehen die erinnerten Toten neben dem Nichterinnerten, und Vergessensimperative (etwa die damnatio memoriae in der römischen Antike) waren bisweilen Teil staatlich verordneter Gedächtnispolitiken. Hinzu kommen Konjunkturen des Erinnerns. Es gibt historische Persönlichkeiten, die heute erinnert werden, denen aber über lange Zeiträume weitgehend nicht gedacht wurde. Durch ›Nicht-Vollzug‹ kann Erinnern zur postmortalen Nicht-Präsenz führen, die gleichwohl durch Ausgrabungen, genealogische Recherchen, Neubewertungen usw. wieder revidierbar ist.
Für die Konferenz »Sterblichkeit und Erinnerung« sind vor diesem Hintergrund Beiträge willkommen, die das Verhältnis von Erinnerung und Vergangenheitsbezug im Spannungsfeld von Sterblichkeit, Tod und Modellen von ›Gedächtnisunsterblichkeit‹ thematisieren. Beispiele für Bezugnahmen können u.a. sein:
Kulturelle und materielle Referenzen auf Sterben, Tod, Wissen und Erinnerung:
- Die Relevanz sozialer Gedächtnisse im Zusammenhang mit Krieg, Katastrophen und kollektiven Traumata
- Die Reflexivität historischer Quellen im Kontext von Erinnern und Vergessen
- Die Tradierung gesellschaftlich wichtigen Wissens im Verhältnis zum Vergessen (Absterben) von Wissensinhalten
- Sterbeprozesse und Lebensrückschau in institutionellen Rahmungen
- Die Umfunktionalisierung von Alltagsgegenständen zu (postmortalen) Erinnerungsartefakten
Formen und Funktionen personalisierten oder institutionalisierten (Toten-)Gedenkens:
- Theoretische und empirische Untersuchungen im Feld der Bestattungskultur
- Kulturelle Spezifika und Grenzen des Totengedenkens
- Erinnerungstechnologien in Bezug auf (prominente/ikonische) Persönlichkeiten
- Gedenktage, Denkmäler, Hashtags, Schweigeminuten und andere Rituale
- Vergewisserungen der Herkunft (Ahnengalerien, Stammbäume)
Probleme mit der Persistenz des Vergänglichen:
- Die Bedeutung von medialen bzw. visuellen Erzeugnissen (Fotografien, Todesanzeigen, Tondokumente) in ihrer Wirkung auf das Erinnern an Verstorbene
- Erinnerung als Todesüberwindung und die Evokation von Unsterblichkeit durch (digitale) Gedächtnismedien bzw. durch KI-gestützte Technologien
- Tote Körper als Gedächtnisgeneratoren, etwa im Zusammenhang mit Knochen-
funden und Reliquien, aber auch in der Forensik - Gespenster, Heimsuchungen, Untote und die Idee der Unsterblichkeit