Tagungsbericht 2022
Wissenskulturen des Todes
Ein Bericht zur Tagung am 24./25. März 2022 (von Christoph Nienhaus und Kerstin Leyendecker)
Am 24. und 25. März 2022 veranstaltete der Arbeitskreis Thanatologie der DGS-Sektion Wissenssoziologie eine Online-Tagung zum Thema „Wissenskulturen des Todes. Zur Aktualität der Thanatosoziologie“. In seiner Begrüßung ordnete Thorsten Benkel (Passau) das Tagungsthema auch in den aktuellen Rahmen des nun wiederkehrenden „vormodernen Sterbens“ im Kontext von Krieg und Pandemie ein. Melanie Pierburg (Hildesheim) und Matthias Meitzler (Passau) stellten den Arbeitskreis Thanatologie und das neu begründete Jahrbuch für Tod und Gesellschaft (erschienen im März 2022) vor. Der Arbeitskreis hat es sich zum Ziel gesetzt, sozialwissenschaftlichen Forschungen empirischer und theoretischer Natur zu den Themenfeldern Sterben, Tod und Trauer eine Plattform zu geben und den interdisziplinären Austausch zu fördern. Auf dieser Basis konnten bereits einige Tagungen und Workshops sowie diverse Publikationen erarbeitet werden.
Eröffnet wurde die Tagung von Hubert Knoblauch (Berlin), der mit seinem Vortrag zur „Refiguration des Todes“ verschiedene Spannungsverhältnisse und Ambivalenzen von gesellschaftlichen Todesnarrativen einkreiste. Entlang der Beispiele der Todesnäheerfahrung, der klinischen Sektion, den sich wandelnden Todeskriterien sowie der Organspende ließe sich vor allem die Nicht-Eindeutigkeit und Unbeständigkeit (im Sinne einer beständigen Transformation) des Todes aufzeigen. In der Gegenüberstellung von modernem und postmodernem Tod liege deswegen gerade keine Entwicklungsbeschreibung, sondern ein beständiges Oszillationsverhältnis, welches den Tod dynamisch in den sozialen Wandel einbette.
Anna Bauer (München) beleuchtete in ihrem Vortrag die räumlichen und zeitlichen Aspekte des „guten Sterbens“ im Kontext der Palliativversorgung in den eigenen vier Wänden. Das Narrativ des guten Sterbens sei heutzutage nicht mehr an abgeschlossene Stationen gebunden, sondern zunehmend ausdifferenziert und räumlich ausgeweitet, weshalb sich die Palliativpflege zu Hause als eigene Praxisform beschreiben lasse. Entlang von drei analytischen Praxisgegenwarten wurde gezeigt, wie sich organisationale Anforderungen auf der einen und Patientenwünsche auf der anderen Seite im Wechselspiel von Gegenwart und Abwesenheit vereinen lassen.
Daniel Schönefeld (Neubrandenburg) widmete sich aus konversationsanalytischer Perspektive dem Sterben als einem interaktiven und kommunikativen Herstellungsprozess. Als theoretischer Ausgangspunkt diente hierfür die Ethnomethodologie nach Harold Garfinkel, mittels derer der Produktionscharakter des Sozialen und hier insbesondere des Sterbens fokussiert wurde. Anhand von audio-visuellen Aufzeichnungen in Krankenhäusern und Hospizen wurden einige Analysestrategien der Konversationsanalyse dargestellt und der Beitrag zur vergleichenden thanatosoziologischen Theoriebildung aufgezeigt.
Am Beispiel der künstlichen Ernährung im stationären Hospiz referierte Lilian Coates (Frankfurt am Main) über professionelle Sterbeexpertise und die Orientierung am wissenden Körper. Auf der Grundlage von Beobachtungsprotokollen wurden die teilweise konfligierenden Wissenskulturen der professionellen Hospizmitarbeitenden und der betroffenen Familien dargestellt. Insbesondere medizinische Deutungen zum sterbenden Körper und seinen Reaktionen können dabei den laienhaften Umgang mit einem geliebten Menschen irritieren. Das Ideal des bewussten und natürlichen Sterbens im Hospiz könne in seinen normativen Implikationen in ein extremes Nicht-Heilungs-Narrativ umschlagen, welches im Extremfall Spannungen und Pflichten im Sinne einer leerlaufenden Gesinnungsethik begründen könne.
Stephanie Stadelbacher (Augsburg) thematisierte das Sterben zu Hause als einen Indikator für Wandlungsprozesse des Privaten. Im Zuge fortschreitender Individualisierung lasse sich die Programmatik des „guten Sterbens“ in der Moderne unter dem Gesichtspunkt der Einbeziehung Angehöriger sowie von individuellen lebensweltlichen Bezügen zunehmend auch im Privaten verorten. Hierfür sei allerdings eine Neuausrichtung des Alltags und der Spielregeln des Privaten erforderlich. Im Umgang mit dem „Sterben-Machen“ zu Hause gelte es auch, mit der Kolonialisierung des Privaten und steigender Entfremdungserfahrungen in der ursprünglich vertrauten Raum-Ding-Ordnung umzugehen.
Angelehnt an die theoretischen Konzeptionen von Georg Simmel, Erving Goffman und Norbert Elias fokussierte Matthias Hoffmann (Saarbrücken) das moderne Individuum in der ausgelagerten Phase des Sterbens. In der Vorausschau auf das Ende des eigenen Lebens sei dabei weniger der Tod an sich, sondern vor allem die Angst vor einem langwierigen (sozialen) Sterbeprozess und einem damit einhergehenden Verlust über die eigenen Körperfunktionen dominant. Aufbauend auf Simmels „Exkurs über die Sinne“ und Goffmans Begriff des „Territoriums des Selbst“ wurde diese Angst als Angst vor dem Verlust des zivilisatorischen Niveaus nach Norbert Elias gerahmt. Die internalisierten Scham- und Peinlichkeitsschwellen lassen die körperlichen Ausfälle als Krisen des eigenen Seelenhaushalts und der konstruierten Identität wirken, was eine Neufassung des Begriffs des sozialen Sterbens evoziere.
Leonie Schmickler (Passau) zeigte in ihrem Vortrag Probleme und Perspektiven der geänderten Rechtsverhältnisse der Sterbehilfe auf. Das vom Bundesverfassungsgericht proklamierte „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ im Sinne des allgemeinen Persönlichkeitsrechts habe zwar das in § 217 StGB normierte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung aufgehoben, allerdings stünde eine Neuregelung durch den Gesetzgeber noch aus. Die Aufgabe des Gesetzgebers, die Selbstbestimmung der Sterbenden in eine praxisverträgliche Rechtsnorm zu überführen, sei nach wie vor durch moralische Argumentationspositionen belastet. Die Irritation, die der (assistierte) Suizid noch immer hervorrufe, entlarve eine Rhetorik der Individualisierung, die an den Durchsetzungsbedingungen politischer Standpunkte scheitere.
Zum Abschluss des ersten Konferenztages referierte Thorsten Benkel (Passau) zur Epistemologie thanatologischer Sozialforschung. Der Tod als Forschungsgegenstand stehe immerzu außerhalb der Erfahrbarkeit und erlaube demnach streng genommen nur außerempirische Aussagen. Dies evoziere in besonderer Weise die Frage nach dem Erkenntnisinteresse thanatosoziologischer Forschung, welches über streng medizinische Erkenntnisse oder bloße lebensweltliche Banalitäten hinausgehen müsse. Gerade die fehlende intersubjektive Nachvollziehbarkeit lenke den Blick dabei auf die verschiedenen kulturellen Verfasstheiten der eigenen „Todesvorbilder“ und auf die Grenzen des Wissbaren als einem Indikator für Kulturbedeutsamkeit.
Den zweiten Tag der Veranstaltung eröffnete Debora Niermann (Zürich) mit einem Vortrag zum Thema „Childing and Adulting in Dying“. Niermann skizzierte ihre eigene geplante Feldforschung, lebenslimitiert erkrankte Kinder zu begleiten und hierbei die Kindheitsperspektive in den Mittelpunkt zu stellen. Neben der Frage, wie Kindheit unter Krankheitsbedingungen erlebt werde, solle es insbesondere um die soziologische Re-Konstruktion der Pole Kindheit/Erwachsensein und Krankheit/Gesundheit gehen. Im Hinblick auf die Vermittlung von Wissensbeständen im Sterbeprozess und die Dynamiken, die in dieser Situation mit Kindern entstünden, sei nicht von „unfertigen Kindern“ im Vergleich zu „fertigen Erwachsenen“ auszugehen, sondern vielmehr von einem vielschichtigen „social becoming“. Sterbewissen sei nicht altersabhängig, sondern erfahrungsgebunden und so läge ein großes Potenzial in den umgekehrten Generationsverhältnissen und den vorherrschenden generationalen Skripten.
Patrik Budenz (Berlin) fokussierte mit umfangreichem Bildmaterial aus verschiedenen fotografischen Projekten den Tod und die Leiche als ästhetisches Element. In seiner neuesten Arbeit zu Leichenfundorten wurde außerdem die „Umwelt des Todes“ aus dem Blickwinkel der Kamera in Szene gesetzt. Im offenen Gespräch mit Thorsten Benkel wurden entlang dieser Eindrücke verschiedene Fragen zu Nähe und Distanz, Inszenierung und Dokumentation erörtert und der Tod als visuelle und fotografische Herausforderung entwickelt.
In seinem Vortrag „Darf ich das zeigen? Die Leiche als visuelle Herausforderung“ widmete sich Matthias Meitzler (Passau) dem toten Körper als gesellschaftlich ausgeblendeter Repräsentanz des Todes. Entgegen der zunehmenden Sichtbarkeit fingierter Leichen in Fernsehserien und Filmen sei das Abbilden echter Leichen nach wie vor problem- und tabubehaftet. Vor dem Hintergrund eigener ethnografischer Untersuchungen im Feld der Obduktion stelle sich die Frage nach den legitimen (und notwendigen) Einblicken in menschliche Überbleibsel auch im Kontext des Wissenschaftsfeldes. Der Bruch mit kulturellen Sehgewohnheiten sei beispielsweise in medizinischen Lehrbüchern sogar erwünscht, in der Soziologie allerdings immer noch begründungsbedürftig, weshalb sich auch ein Vergleich verschiedener soziologischer Subdisziplinen hinsichtlich visueller Tabus anbiete.
Zum Abschluss der Tagung befasste sich Ekkehard Coenen (Weimar) aus gewaltsoziologischer Sicht mit der Mediatisierung des Tötens in der Online-Video-Kommunikation. In einem ersten Schritt wurden die unterschiedlichen Beeinflussungsdimensionen der Mediatisierung auf Tötungshandeln dargestellt. Sodann wurde das Tötungsvideo als „Grenzobjekt“ in seiner Diskurseinbettung untersucht, wobei Coenen mit der moralischen, der politischen und der thanatologischen Arena drei Diskursebenen exemplarisch vorstellte.
Die Tagung bot spannende Einblicke in die vielfältigen Forschungsthemen und -ansätze zum Lebensende und die damit verbundenen institutionellen und rituellen Rahmungen. Im Kaleidoskop der Wissenskulturen lassen sich verschiedene kulturelle, zeithistorische und diskursrelative Mosaiksteine des Todes aufeinander beziehen und betrachten, weshalb sich die dargebotene methodische und theoretische Vielfalt auch für zukünftige Forschungen gewinnbringend einsetzen lässt. Die Ergebnisse der Tagung sollen in einem Tagungsband in der Reihe "Thanatologische Studien“ des Verlags Rombach Wissenschaft erscheinen.