Tagungsbericht 2021
Bericht über die (Online-)Tagung
STERBLICHKEIT UND ERINNERUNG. Soziale Gedächtnisse am Lebensende
Alina Stichling
Am 11. und 12. März 2021 veranstalteten Thorsten Benkel und Matthias Meitzler (beide Passau) gemeinsam mit Oliver Dimbath (Koblenz) die Online-Tagung „Sterblichkeit und Erinnerung“, welche zugleich als Jahrestagung des Arbeitskreises "Gedächtnis - Erinnern - Vergessen" der DGS-Sektion Wissenssoziologie fungierte.
Nach der Begrüßung durch die Veranstalter hielt Thorsten Benkel den eröffnenden Vortrag über Gedächtnispolitik. Institutionen und Rituale des (Nicht-)Erinnerns. Zunächst thematisierte er das Vergessen, welches kein bewusster Akt sei, allerdings oftmals soziale Sanktionen nach sich ziehe. Die Relevanz des individuellen Gedächtnisses zeige, dass Erinnerung mit persönlichen Erfahrungen verknüpft ist. Auch aktives Vergessen, zu dem u.a. die Verdrängung des eigenen Sterbens und das geliebter Mitmenschen gehöre, sei eine soziale Facette von Erinnerung. Ist ein Mensch gestorben, so kann er durch ständiges Erinnern, also durch Gedächtnisrepräsentation, weiterhin sozial präsent bleiben. Auf diese Weise sind die Toten immer im Zugriff der Lebenden.
Im ersten Panel „Abschließen als Vorbereitung des Sterbens“ thematisierte Sarah Peuten (Augsburg) in ihrem Vortrag Würdezentrierte Therapie. Über gelingendes Erinnern am Lebensende die hospizlich palliativen Ideale des Sterbens. Die Individualisierung wirke sich auch auf das Sterben aus. Je mehr Gestaltungsoptionen sich diesbezüglich ergeben, desto weniger werde Sterben schicksalhaft betrachtet und stattdessen symptomkontrolliert „gemacht“. Es sei folglich kein Schicksal, sondern ein „Mach-sal“, bei dem der Patient zum Co-Produzenten seines eigenen Ablebens werde. Im Rahmen halbstrukturierter Interviews können Sterbende dazu gebracht werden, sich zu erinnern, wodurch ein wohlwollender Lebensrückblick entsteht. Durch (zu) enge Führungen können differente Lebensstile, Wertvorstellungen und Bedeutsamkeiten jedoch verloren gehen, so Peuten. Die Würdezentrierte Therapie fungiere als erinnerungsbezogene Selbsttechnik. Sie befriede, harmonisiere, selektiere und helfe dem sich Selbst-Erinnern und dem Erinnert-Werden. Dies sei eine spezifische soziale Gedächtnisordnung.
Melanie Pierburg (Hildesheim) beschäftigte sich in ihrem Vortrag ,Auch ihr erinnert euch.‘ Biografische Repräsentationen in der Hospizausbildung mit Hospizvorbereitungskursen für ehrenamtlich Beschäftigte und der Frage, wie Erinnerung in diesem Kontext als biografische Ressource genutzt wird. Dabei erörterte sie, inwiefern Erinnern und Erinnerungen den Hospizkurs durchziehen und sozial konstituiert sind. Laut Pierburg dienen viele Übungen dazu, eine affirmative Haltung in Sterbesituationen vorzubereiten. Das Erinnern vollziehe sich damit in einer didaktisch gerahmten Kommunikationssituation, welche das biografische Memorieren zum Vermittlungsgegenstand erhebe, der auf die sterbebezogene Interaktion der Begleitung gerichtet sei.
Das zweite Panel war dem Themenfeld „Bestattungs- und Sepulkralkultur“ gewidmet und startete mit Matthias Meitzlers Vortrag Der Friedhof als Gedächtnisraum. Am Beispiel zeitgenössischer Friedhöfe thematisierte Meitzler den Zusammenhang von postmortaler Individualisierung, Sterblichkeit und Erinnerung. Friedhöfe, so Meitzler, geben dem sozialen Gedächtnis einen begehbaren Raum, sie sind somit nicht allein Lagerstätten für tote Körper, sondern erfüllen noch weitere Funktionen, u.a. als Orte des Abschieds, ritueller Handlungen sowie der parasozialen Zuwendung zu den Verstorbenen. Unter Berufung auf empirische Forschungsarbeit (mit über 150 qualitativen Interviews im Bestattungskontext und mehr als 1.200 besuchten und analysierten Friedhöfen) veranschaulichte Meitzler, dass der Friedhof immer mehr zum Schauplatz von Lebensreferenzen werde. In diesem Zusammenhang sprach er von postexistenzieller Existenzbastelei und postmortaler Imagekonstruktion. Gerade unter neueren Gräbern fänden sich zunehmend Verweise auf Freizeitkontexte, auf populärkulturelle Inhalte oder Alltagsartefakte, die mit den Verstorbenen assoziiert werden. Ferner ging Meitzler auf das Konzept der zwei Körper der Toten ein: Während der erste Körper für die Leiche stehe, die aus dem sozialen Umfeld ausgegliedert werde, um letztlich im Grab zu verschwinden, sei der zweite Körper als Repräsentant der lebendigen Vergangenheit der Verstorbenen für die (Erinnerungen der) Hinterbliebenen weiterhin sozial relevant.
Leonie Schmickler (Passau) thematisierte in ihrem Vortrag Materielle (Un-)Vergänglichkeit. Die symbolische Umdeutung von Artefakten im Trauerprozess den sogenannten ‚Erinnerungsdiamanten‘, welcher aus der Kremationsasche von Verstorbenen hergestellt wird. Aufgrund der in Deutschland geltenden Friedhofspflicht erfolgt die Produktion in der Schweiz, jedoch sind viele deutsche Bürger Kunden des Anbieters. Durch telefonische Interviews und Feldaufenthalte vor Ort wurde deutlich, dass die Diamanten für viele Hinterbliebene nicht nur ein Schmuckstück darstellen, sondern auch eine Art transformierte Fortexistenz der verstorbenen Person bedeuten. Diese bleibe über den Diamanten adressier- und berührbar und erhalte zugleich einen Symbolwert, der nicht lediglich im materiellen Wert des Edelsteins aufgehe. Insofern verwundere es nicht, wenn der Verlust des Aschediamanten mit einem erneuten Verlust des Verstorbenen gleichgesetzt werden.
Das dritte Panel zu „Formen des Gedenkens“ wurde von Jan Ferdinand (Berlin) mit seinem Vortrag zum Übergang vom ,kommunikativen‘ ins ,kulturelle Gedächtnis‘ bei Jan Assmann eingeleitet. Im Fokus stand die Charakterisierung von Assmanns Denkweise und seines Begriffs des kulturellen Gedächtnisses. Assmann mache geltend, so Ferdinand, dass der Rekonstruktionscharakter von Erinnerungen nicht alles sein könne: Auschwitz beispielsweise sei schwer zu erinnern, aber unmöglich zu vergessen. Ferdinand verband Assmanns Perspektive ferner mit der Theorie von Maurice Halbwachs und thematisierte das mythische Element in Assmanns Ausführungen, um danach eine Charakterisierung des Assmann‘schen kulturellen Gedächtnisses als religiöses Gedächtnis vorzulegen. Die Gesellschaft sei, so Ferdinand, die längste Zeit der Menschheitsgeschichte genau genommen ein religiöses Gedächtnis gewesen.
In ihrem Vortrag Militärisches Totengedenken. Gedächtnissoziologische Überlegungen am Beispiel der Bundeswehr befasste sich Nina Leonhard (Potsdam) mit dem zeitgenössischen Erinnern an tote Soldaten. Durch den Wandel der politischen Kultur des Krieges in Deutschland werde eine neue Art des Erinnerns an deutsche Soldaten praktiziert, die bei Erfüllung ihrer Dienstpflicht ums Leben gekommen sind. Neue Formen des Gedenkens (wie der ‚Wald der Erinnerung‘) dienen hierfür als Beispiele. Das modernisierte Erinnern gebe, so Leonhard, eine Antwort auf die Frage: Wofür haben diese Soldaten ihr Leben gelassen, wofür haben sie ihr Opfer geleistet? Zum einen werde die funktionale Differenzierung ersichtlich, zum anderen entwickele sich eine Privatisierung des Soldatentums. Als Problem stellte Leonhard fest, dass das Gedenken an den politischen Auftrag in die Erinnerung an eine militärische Funktion umgemünzt werde, welche aber in politischer Hinsicht nur bedingt legitimierbar ist.
Die daran anschließende Präsentation von Ekkehard Coenen (Weimar) zu Infrastrukturen des Erinnerns und Mitsein mit den Getöteten. Wissenssoziologische Beobachtungen am Beispiel der Gedenkstätte Buchenwald drehte sich um das gewaltsame Verkürzen der Lebenszeit von KZ-Häftlingen. Das Mitsein mit den Getöteten werde durch die verschiedenen Objektivierungen des Tötens, wie z.B. Genickschussanlagen und Leichenkellern, konstituiert und sei im hohen Maße an ein Gewaltwissen und die damit zusammenhängenden kommunikativen Handlungen verknüpft. Heute können Interessensgruppen durch Eingriffe in die Infrastrukturen der Gedenkstätte auch das Mitsein mit den Opfern prägen. Infrastrukturen bilden somit die Basis, durch die das kommunikative Gedächtnis geprägt werden könne.
Im letzten Vortrag des dritten Panels präsentierte Carsten Heinze (Koblenz) Das Spannungsverhältnis zwischen Orten des Todes und Überlebend(den) in dokumentarischen Filmen. Bürgerkrieg und Genozide im 20. Jahrhundert. Er beschrieb den dokumentarischen Film als Erinnerungsmedium, welcher in der Lage sei, Zeitabläufe bewahren und festhalten zu können. Dokumentarische Filme seien gekennzeichnet durch Aufklärung, Wissensvermittlung und eine Nicht-Fiktionalität des Materials. Als Erinnerungsmedium dienen sie dank Aufzeichnung und Speicherung und durch Interviews mit Zeitzeugen. Der dokumentarische Film, so Heinze, fungiere mithin als Spiegel von Ereignissen, die wir in der Realität aufgrund ihrer Grausamkeit nicht anschauen können bzw. wollen. Die Frage sei somit zum einen, wie man mit Bildern des Todes/des Sterbens in Dokumentarfilmen umgehen solle, und zum anderen, welche Bilder auf welche Weise gezeigt werden.
Den zweiten Veranstaltungstag begann Nico Wettmann (Gießen) mit der Eröffnung des vierten Panels „Anfang und kein Ende“ und seiner Präsentation zu Erinnerung, Phantasmen, Vergessen. Fehl- und Totgeburten aus zeitsoziologischer Perspektive. Durch die Visualisierung des Ungeborenen in der Ultraschallaufnahme werde der Status der gegenwärtigen Identität gefestigt. Diese Sichtbarkeit führe, so Wettmann, zu einer antizipativen Aufladung der Schwangerschaft. Das Ungeborene sei diesseits von Sein und Werden. Als zeitliche Bezugsweisen nennt Wettmann die elterliche Imagination, Passivitäten von Schwangerschaften, Vergegenwärtigung des Ungeborenen, Kultivierung offener Zukünfte und Brüche in Form von Schwangerschaftsverlusten. Die Wahrnehmung eines solchen Verlustes knüpfe auf spezifische Weise an die Elternbiografie an und führe diese fort.
Oliver Dimbath beschäftigte sich in seinem Vortrag zur Unsterblichkeit mit Formen des kollektiven und außeralltäglichen Erinnerns an Personen und mit dem Streben, im Angedenken der Weiterlebenden zu überdauern. Die Unsterblichkeit der Seele sei insofern hochrelevant, als man sie als Erinnerungsmedium begreifen könne. Der Unsterblichkeitsglaube habe zwei Wurzeln: Erstens den auf Traum-Erinnerungen begründeten Aberglauben an ein Weiterleben der Seele und zweitens die jüngere Annahme der Individualisierung, welche Einzelne dazu ermutigt, Beiträge zur Entwicklung der Gesellschaft zu leisten – mit dem Lohn des Erinnert-Werdens. Die Unsterblichkeit im Jenseits sei hingegen als religiöse Beruhigungspille zu sehen. Unsterblichkeit biete des Weiteren, nämlich durch Vererbung, eine schwach individualisierte Hoffnung, der Betroffene könne das Gedächtnis der Nachwelt mitgestalten, in dem er Spuren hinterlässt.
Im finalen Panel („Auflösen als Bewältigung des Nachlasses“) hielt Christoph Nienhaus (Bonn) einen Vortrag zu Erbschaft als Erinnerung. Rechtsnachfolge und Testierfreiheit im Spiegel der soziologischen Theorie. Die Reflexion der eigenen Sterblichkeit und das damit verbundene Verpflichtungsgefühl, das Erbe angemessen zu regeln, stehe in Verbindung mit dem Wunsch nach der Kongruenz von Selbst- und Fremdbild. Weil es Erbschaft und daran gekoppelte Erinnerungen nicht losgelöst vom Recht gebe, würde der Tod im Spiegel der Rechtssoziologie sowohl zu einem Problem der Sterbenden wie auch der Erbenden.
Die Tagung endete mit einer Abschlussdiskussion, an der rege teilgenommen wurde. Die Ergebnisse der Veranstaltung sollen in einem Sammelband veröffentlicht werden.