Tagungsbericht "Rituale der Transformation"
Am 5. und 6. Juli 2019 fand an der Universität Passau die sozialwissenschaftliche Fachtagung „Rituale der Transformation. Zur Kultur der Bestattung in der individualisierten Moderne“ statt. Sie wurde von den beiden Soziologen Thorsten Benkel und Matthias Meitzler organisiert. Vor dem Hintergrund umfangreicher empirischer Studien, die in den vergangenen Jahren von Passau aus zum Themenkomplex Sterben, Tod und Trauer betrieben wurden, verfolgte die Tagung das Ziel, wissenschaftliche und praxisorientierte Perspektiven zusammenzubringen und aktuelle Entwicklungen zu diskutieren.
In seiner Funktion als Studiendekan der Philosophischen Fakultät begrüßte zunächst Christian Thies alle Tagungsgäste und bedankte sich ausdrücklich bei den Organisatoren für die investierten Mühen. Anschließend eröffnete Thorsten Benkel (Passau) mit einem Vortrag über die performative Verwaltung von Umbrüchen in der Sozialstruktur. Anhand von Beispielen aus der Forschungspraxis zeigte er auf, wie mittels spezifischer Transformationsrituale das chaotische und zerstörerische Element eines singulär-markanten Sinnzusammenbruchs auf der mikrosozialen Ebene verhandelt und bewältigt werden kann. Zugleich wird aus der makrosoziologischen Perspektive das strukturbewahrende Element einer zwar kulturell und historisch vielschichtigen, aber anthropologisch-gesellschaftlich normalen Veränderung anhand solcher Ritualismen deutlich. Der sozialen Zäsur des Todes kann vonseiten der Fortlebenden ein sinnstiftendes, ritualisiertes Ritual entgegen gesetzt werden, welches zwar an der „kupierten Apokalypse“ des individuelles Todes de facto wenig ändert, aber gerade in modernen, pluralisierten Sinnbestimmungen in der spezifischen Deutung der Menschen zumindest eine sinnvolle Rahmung bilden kann.
Im Anschluss fokussierte Matthias Meitzler (Passau) mit der Temperatur eine Transformationsvariable des Todes, deren (thanato-)soziologische Bedeutsamkeit sich weit über die existenzielle Frage erstreckt, wie kalt ein toter und wie warm ein lebender Körper eigentlich sein muss. In Übertragung der Metapher von der „heißen Kultur“ (Claude Lévi-Strauss) auf das zeitgenössische Totengedenken kann beispielsweise festgestellt werden, dass neben der schriftlich-materiellen Fixierung zunehmend eine Emphase auf audio-visuelle und digitale Erinnerungstechniken gelegt wird. Anhand von Praxisbeispielen wie Obduktion, Kremation, Resomation, Promession und Kryonik konstatierte Meitzler außerdem, dass die Optimaltemperatur des toten Körpers hochgradig kontextsensitiv ist. Meitzler warf mit seinem Vortrag nicht nur ein neues Scheit auf das soziologische Paradigmenfeuer, sondern zeigte insbesondere die Relevanz der postmortalen Temperatursensibilität auf.
Michaela Thönnes (Zürich) beleuchtete die strukturellen Bedingungen des Pflegepersonals im Verhältnis von Individualisierung und Institutionalisierung. Die „Leitkultur der Selbstbestimmung“ beim Sterben stehe in der Praxis vor der Frage ihrer Durchsetzbarkeit in zunehmend professionalisierten Institutionen und stelle eine der größten Herausforderungen dar, mit der die betroffenen Akteure umgehen müssen. Am Beispiel der Tierbegleitung im Hospiz wurde aufgezeigt, wie diese Herausforderung zwar den Wandel hemmt, aber Möglichkeiten für einen subtilen kommunikativen Ausweg bietet.
Auch Niklas Barth, Katharina Mayr und Alexander Walker (München) nahmen die Erkenntnisse aus ihrer empirischen Forschung in Palliativstationen und Hospizen als Ausgangspunkt für ihre Betrachtungen zum Thema „Organisierte Rituale – Ritualisierte Reflexion“. Im Spannungsfeld von individuellen und kollektiven Übergangsriten sowie starren Organisationsroutinen steht insbesondere das Narrativ vom ‚guten Sterben‘ auf dem Prüfstand. Mit einer Art „routinierter Unterbrechung von Ritualen“ können Reflexivität und Verlangsamung im Alltag der Organisation als ein retardierendes Element eingeführt und kommunikativ verarbeitet werden.
Ursula Engelfried-Rave (Koblenz) stellte aktuelle Zwischenergebnisse und Aussichten aus der Projektforschung zum Thema Trauerbegleitung am Arbeitsplatz vor. Hierbei lassen sich im Hinblick auf verschiedene Typen von Trauerfällen diverse Betroffenheiten und Trauerreaktionen sowie Aktionsmodi der Organisationen feststellen. Dem Dilemma zwischen effizienter Arbeit und Mitarbeiterfürsorge stehen viele immer noch hilflos gegenüber, wobei eine nicht wahrgenommene Trauer gravierende Folgen für die Arbeitsmoral haben kann. Infolgedessen plädierte sie für weitere Nachforschungen auf diesem Gebiet und für die Wissenstransformation in Richtung der praktischen Umsetzung und Hilfestellung.
Nico Wettmann (Gießen) thematisierte die Transformationsarbeit von Hebammen bei pränatalen Verlusten. Die Schwierigkeit liegt hierbei insbesondere im Umgang mit der Krise, die die soziale Konstruktion der Elternschaft durch den „Exitus um Uterus“ erleidet. Wettmann zeigte anhand eigener Interviews, wie die Hebammen bei der Definition der Krisensituation helfen, das Kind als Interaktionsgegenüber und als Wesen mit einem Platz in der Welt zu deklarieren und so die Transformation möglichst stabil zu gestalten.
Thomas Klie (Rostock) beleuchtete in einer Fallanalyse zur Diamantpressung aus Totenasche die Bedeutsamkeit von Artefakten im Bereich des Sepulkralen, sowie die spezifischen Implikationen eines mit Ewigkeitsgarantie versehenen Juwels. Die Präzisionsanfertigung bietet neben verschiedenen Herstellungsoptionen, welche immer auch eine sozialstrukturelle Komponente beinhalten, vielfältige Verwendungsmöglichkeiten und kann als eigentumsfähiges, mobiles Ding für verschiedenste Deutungen und Handlungen der Trauernden verwendet werden. Die Frage nach der Art und Aushandlung der Beziehung zu den transformierten sterblichen Überresten geliebter Personen ist vor dem Hintergrund einer individualisierten Moderne immer auch eine Frage nach den kulturellen und sozialen Dimensionen von Trauer und dem Verhältnis einer Gesellschaft zur Materialität.
Den zweiten Veranstaltungstag eröffnete Leonie Schmickler (Passau) mit einer soziologischen Betrachtung über die Grenzen der Selbstbestimmung in der Sterbehilfe. Nach einer Darstellung und Einordnung der vielfältigen Fallgruppen der aktiven und passiven Sterbehilfe wurde die exemplarische Komplexität einer juristischen, allgemeinen Regelung eines zutiefst intimen Lebensbereichs aufgezeigt. Die Einschränkung desselben durch den Gesetzgeber provoziert im Einzelfall persönliche, soziale und rechtliche Probleme, die vor dem Hintergrund der §§ 216, 217 StGB sowohl Ärzte und Organisationen als auch Betroffene in der Praxis vor große Unsicherheiten stellen.
Frank Thieme und Susanne Stachowitz (Bochum) betrachteten Abschiedsrituale als Widerspiegelung des sozialen Wandels und ordneten unter anderem die Pluralisierung und Säkularisierung als eine Folge hiervon ein. Die Auswirkungen auf das einzelne Individuum wurden ebenso diskutiert wie die gesamtgesellschaftlichen Hintergründe in Bezug auf veränderte Bestattungsarten und Ritualrahmungen.
Constanze Petrow (Geisenheim) widmete sich dem Friedhof als einem Ort der Sozialraumanalyse, an dem sich strukturell und situativ divergierende Charakteristika ausmachen lassen. So stellte sie den privaten Raum am Grab dem öffentlichen Raum um das Grab herum gegenüber und beleuchtete unterschiedliche Handlungsbefugnisse und Aneignungsstrategien.
Dorothea Mladenova (Leipzig) stellte ihr Dissertationsprojekt zum Wandel der Bestattungskultur in Japan vor. Im Zuge der historischen Entwicklung lassen sich verschiedene Stadien mit spezifischen Merkmalen hervorheben, wobei aktuell ein Trend zu einer individualisierten und zu Lebzeiten selbst organisierten Bestattung auszumachen ist, eingerahmt von wirkmächtigen Narrativen wie dem Wunsch, niemandem zur Last zu fallen und aktiv zu gestalten, was scheinbar unplanbar überrascht. Diese Option wird durch professionelle „end of life planner“ und insbesondere durch digitale Plattformen im Stile von „Airbnb“ ermöglicht, welche Mladenova eindrucksvoll als Fallbeispiele mit spezieller Ästhetik vorstellte.
Ekkehard Knopke (Weimar) berichtete in seinem Vortrag von ethnografischen Erkundungen auf Bestattungsmessen und konstatierte dabei eine zunehmende „Eventisierung“. So dienen die Messen als Agenda-Setter für das Thema Tod und Sterben und versuchen dabei, ein attraktives Image für das Sujet und die Beteiligten zu etablieren. Bei der subtilen Sensibilisierung der Besucher für den Ernstfall stehen dabei jedoch vor allem die ökonomischen Aspekte der Aussteller im Zentrum.
Thorsten Benkel und Matthias Meitzler beschlossen die Tagung mit einem visuellen Streifzug durch das thanatologische Unterholz und gewährten nähere Einblicke in ihre empirische Forschungsarbeit. Dabei wurde anhand von Bildmaterial die soziologische Relevanz solcher Bereiche wie öffentlicher Trauerplätze (etwa die Stätte einer tödlichen Auseinandersetzung, aber auch Unfallorte) oder der Pathologie-Abteilung von Krankenhäusern nachgezeichnet.
Neben dem produktiven und tragfähigen Diskurs zwischen Theorie, Methodologie und Praxis, der die Vielfalt und Breite der Thematik signalisierte, machte die Tagung auch die Notwendigkeit weiterer intensiver Vernetzung und Forschung deutlich, damit insbesondere die Fragen nach der Einordnung von digitalen Entwicklungen und der Einbeziehung der Materialität am Lebensende bearbeitet werden können.
Der Autor
Christoph Nienhaus B.A., studiert Soziologie an der Universität Bonn.